Sonntag, 6. November 2011

1. Tag

17 Uhr, ich bin angekommen. Und schon überlege ich, wie ich mich unauffällig wieder aus dem Staub machen kann. Nachdem ich bei der Anmeldung einen Blick auf die Teilnehmerliste werfen konnte, traf mich fast der Schlag: Um die zwanzig Personen standen darauf, fast ausschließlich Ordensschwestern! Und das mir, die ich mich ohnehin eher als katholische Karteileiche empfinde. In den meisten Jahren sehe ich eine Kirche nur zu Weihnachten von innen, und mein liturgisches Halbwissen besteht aus den Überbleibseln einer durchschnittlichen katholischen Kindheit in den siebziger Jahren. Und nun soll ich hier eine Woche unter lauter Nonnen verbringen?

Aber letztlich bin ich hier, um eine Woche vor Gott einfach nur da zu sein. Das war die Idee. Einer Sehnsucht zu folgen, die sich in den letzten Monaten immer stärker bemerkbar gemacht hat: „Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen“ (Jer. 29,13-14). Mit diesem Versprechen im Ohr bin ich hierher gekommen. Gefunden habe ich Gott schon oft (oder er mich?), gesucht hingegen noch nie. Und ich bin gespannt, was die Suche ergibt. Nach den letzten, oft so hektischen und anstrengenden Wochen, nach zig Erledigungen, Besorgungen, abgearbeiteten to-do-Listen, Krankenhausbesuchen und nach den schönen Tagen in Frankfurt mit der lustvollen Reizüberflutung von zwei Tagen Buchmesse nun eine Woche Stille – und Gott? Im Moment erscheint er mir sehr weit weg zu sein. Ob ich ihm in dieser Woche begegnen kann?

Mit wem ich gemeinsam schweige, ist ja letztlich auch egal. So versuche ich mich über den ersten Schreck hinweg zu trösten. Allerdings fühle ich mich gerade wie eine Hobbyläuferin, die sich versehentlich beim olympischen Marathon angemeldet hat: lauter Glaubensprofis am Start, und in der letzten Reihe, ganz versteckt, eine rumstümpernde Amateurin. Andererseits, ist das hier kein Wettkampf, wer es in einer Woche am nächsten zu Gott schafft. Ich laufe halt mein Tempo. Und wer weiß, vielleicht reißen mich die Profis ja auch mit.

In einer dreiviertel Stunde gibt es Abendessen, da werde ich sie zum ersten Mal sehen.

Nach dem Abendessen:
Die Stimmung hat sich schon deutlich gebessert. Außer mir sind noch zwei weitere „weltliche“ Teilnehmerinnen hier, und mit einer hab ich mich schon ein wenig bekannt gemacht. Wir saßen am selben Tisch, und sie war ähnlich erstaunt wie ich, dass so viele Nonnen dabei sind. Es war aber auch ganz interessant, den Tischgesprächen zu lauschen, die ausdrücklich noch erlaubt waren. Da wurde sich über das Kreuz einer Schwester gewundert („so eins habe ich ja noch nie gesehen“) oder über frühere Ordenstrachten gefachsimpelt. Letztlich sind es eben doch Frauen, und Modebewusstsein gibt es offenbar auch im Kloster.
Das Essen war einfach aber durchaus lecker. Und dazu Früchtetee, über den ich doch arg schmunzeln musste. Im Kühlschrank des Speisesaals stand auch Kölsch, aber offenbar nicht für uns.

Meine weltliche Mit-Schweigerin und ich haben dann dem Pater, der unsere Exerzitien leiten wird, geholfen, den Overhead-Projektor im Gruppenraum ans Laufen zu bringen. Er bat uns jüngere Teilnehmerinnen darum, und mir lag schon auf der Zunge zu antworten, dass ich für diese Art Technik zu jung bin. Wann habe ich zuletzt einen Overheadprojektor benutzt? Aber wir haben die Technik gemeistert und uns dabei noch ein wenig unterhalten.

Nach der einführenden Abendveranstaltung überkommen mich wieder Zweifel, ob ich hier richtig bin. Der Pater scheint mir schon eher auf ein geistliches Publikum eingestellt zu sein und weniger auf Leute wie mich. Zu Beginn lässt er gleich mal drei Strophen eines Liedes singen, von dem ich nicht mal die erste kenne. Also bleibe ich stumm, während alle anderen textsicher mitsingen. Bei der Vorstellungsrunde stellt sich heraus, dass auch die weltlichen Teilnehmerinnen zumindest beruflich irgendeinen kirchlichen Bezug haben.

Ist das hier der Ort, wo ich Gott begegnen kann? Ich fühle mich fremd, exotisch und merke, wie das Unbehagen dazu führt, dass ich mich innerlich eher verschließe. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, sollte man meinen. Das Tagesprogramm ist voll, langweilig sollte es also nicht werden: Wir beginnen mit dem Morgenlob um viertel vor acht, dann Frühstück, anschließend der erste Impuls. Um elf ist Eucharistiefeier, um halb eins gibt es Mittagessen. Dann ist eine längere Pause, sofern man die Kaffeepause um halb drei auslässt. Um halb vier gibt es den zweiten Impuls, um sechs Abendessen. Und um sieben endet der Tag mit eucharistischer Anbetung und Komplet.

Führt mich das alles zu Gott? Aber vielleicht muss ich auch erst mal ankommen.
Immerhin habe ich mir vorgenommen, dass es an zu viel Ablenkung nicht scheitern soll. Ich habe als Lektüre nur die Bibel eingepackt, die ich seit Mai in einem Langzeitprojekt von vorne bis hinten lese. Der ipod durfte zwar mit, aber nur um damit geistliche Musik zu hören (naja, und vielleicht mal ein kurzes Spielchen zwischendurch zu spielen). Ansonsten keinerlei Ablenkung durch Zeitungen, Internet, Fernsehen. Wenn ich mich hier langweile, dann langweile ich mich halt vor Gott.

Vater, ich bin hierher gekommen, um einfach nur vor dir da zu sein. Hilf mir, meine Erwartungen zu zügeln und alles dir zu überlassen.

2. Tag

Gut geschlafen habe ich schon mal. Die Matratze ist schön hart, die Bettdecke kuschelig, daran soll es also nicht liegen. Über dem Bett hängt das obligatorische Kruzifix, zu dem ich mit gemischten Gefühlen aufschaue. Es gibt sicherlich Situationen, in denen der leidende Jesus tröstlich sein kann, aber immer nur diese wenigen schrecklichen Stunden am Kreuz vor Augen zu haben? Eigentlich tut mir Jesus vor allem leid, wenn ich ihn da so hängen sehe. Da gefällt mir das leere Kreuz der Protestanten als Zeichen der Auferstehung dann wieder besser. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass da nachts einer über mich wacht, was auch wieder schön ist.

Ich habe beschlossen, diesen Glaubensmarathon hier Schritt für Schritt anzugehen und nicht zu verzweifeln, wenn ich keine rechte Stimmung entwickle oder mal wieder als religiöse Analphabetin stumm neben den versierten Hochleistungsbetern stehe. Darauf kommt es nicht an, das sei jetzt mein Mantra.

Bei der Morgenandacht hatte ich gleich schon Gelegenheit, dieses Mantra einzuüben, nachdem ich prompt vergaß, das Knie vor dem Tabernakel zu beugen. Aber ich bin ja lernfähig. Weitere Blamagen blieben mir immerhin erspart. Immer wieder amüsiert mich die Überpünktlichkeit der Schwestern. Ich bin ja nun für mein pünktliches Erscheinen schon eher berüchtigt als berühmt, aber wenn ich hier zehn Minuten vor Beginn den jeweiligen Raum betrete, egal ob Kapelle, Speisesaal oder Gruppenraum, bin ich fast schon die letzte. Wer tatsächlich pünktlich kommt, ist praktisch schon zu spät.

Das erste Impulsreferat am Morgen über die Bibelstelle, die das Thema der Exerzitien bildet, dauert eine halbe Stunde, und der Pater schafft es mit vielen Worten wenig zu sagen. Die Schwester neben mir schreibt brav mit, was ich ganz rührend finde. Das Bild des Christus mit ausgebreiteten Armen, das er uns mitgebracht hat, berührt mich allerdings sehr, und ich nehme es mit in meine morgendliche Gebets- und Meditationszeit. Der Pater stellt den Christus mit den ausgebreiteten Armen, dem leidenden Christus am Kreuz gegenüber und greift damit meine Gedanken vom Morgen auf. So sehr ich auch glaube, dass wir den leidenden Christus nicht in der Schublade verschwinden lassen dürfen, so sehr bin ich davon überzeugt, dass wir den anderen noch nötiger brauchen. Und ich bin froh, dass sich diese Erkenntnis offenbar mehr und mehr durchsetzt.

Bei der Eucharistiefeier begehe ich einstweilen keinen faux pas mehr.

Das Mittagessen in Stille tut mir gut. Langsam merke ich, wie die Ruhe hier sich wie ein Mantel über mir ausbreitet. Das Schweigen scheint mir ein ganz natürlicher Zustand zu sein. Ich ziehe es an wie eine zweite Haut. Es passt auf Anhieb, fühlt sich nicht fremd oder unbehaglich an. Der Pater legt ein Violinkonzert auf. Wir werden beim Mittag- und Abendessen nun immer Musik hören, was ich sehr schön finde. Untereinander verständigen wir uns mit Gesten oder auch mal mit ein paar geflüsterten Worten, da sind die Schwestern zum Glück sehr undogmatisch. Ich merke, dass ich bewusster essen und den Geschmack des Essens (es gibt Kalbsgulasch mit Spätzle) aber auch mein Sättigungsgefühl stärker wahrnehme. Vermutlich würde man bei dauerhaftem Essen in Stille niemals dick werden, aber ganz sicher sehr einsam…

Nach dem Essen treiben mich die Entdeckerlust und das schöne Wetter zu einem Spaziergang. Da ich mich nicht auskenne, gehe ich nicht allzu weit und hänge noch einen Rundgang durch den sehr schönen und weitläufigen Klostergarten dran. Unterwegs begegnen mir die Teilnehmerinnen eines anderen Kurses, die offenbar nicht schweigen. Ich gehe ich ihnen weiträumig aus dem Weg.

Den Rest des Nachmittags verbringe ich mit Lesen, Nichtstun, und noch einer Gebets- und Meditationszeit. Ich habe mir vorgenommen, jeweils vormittags, nach dem Mittagessen, nach dem Nachmittagsimpuls und zum Abschluss des Tages eine persönliche Gebetszeit einzulegen. Das sollte reichen, und für mehr reicht auch meine Konzentration nicht. Es gibt jedoch keinerlei Anweisungen oder auch nur Empfehlung, wie oder wo wir unsere freie Zeit verbringen sollen, was ich sehr angenehm finde. Neben der kleinen Kapelle, die auf demselben Gang liegt wie unsere Zimmer, gibt es auch noch einen Raum der Stille. Ich fühle mich jedoch in meinem eigenen Kämmerlein am wohlsten.

Beim zweiten Impulsreferat stelle ich fest, dass der Pater sicherlich ein sehr liebenswerter Mensch ist, mir aber nicht sehr viel zu sagen hat, auch wenn er sich Mühe gibt, nicht nur zu den Ordensschwestern zu spreche, mit deren Welt und Sorgen er natürlich sehr viel vertrauter ist als mit meiner Weltlichkeit. Ich versuche, das Beste daraus zu machen und vielleicht hin und wieder einen Gedanken mitzunehmen, um darüber zu beten und zu meditieren. Im Moment texte ich Gott noch gnadenlos zu mit meinem Gedankenüberfluss. Von innerer Stille noch keine Spur. Noch dringt die äußere Stille nicht in meinen vollgestopften Kopf vor. Aber ich habe ja Zeit. Immerhin versuche ich, langsam stiller zu werden. Und wenn meine Gedanken mal wieder Achterbahn fahren, bleibe ich trotzdem still sitzen. Es wird schon werden.

Beim Abendessen muss ich grinsen, als Schwester Pia, die hier im Haus lebt, das Gesicht angesichts des offenbar unvermeidlichen Hagebuttentees verzieht und sich stattdessen lieber einen schwarzen Tee holt. Das ist vermutlich die monastische Form eines Exzesses. Ich male mir die Gesichter der Schwestern aus, wenn ich aufstünde und mir aus dem Kühlschrank gegen Bezahlung eine Flasche Kölsch nähme – und dann in Ermangelung eines passenden Glases aus der Flasche tränke. Aber ich bleibe brav beim Tee.
Das Essen finde ich auf angenehme Weise reizarm. Angesichts von je drei Sorten Brot, Käse und Wurst und einem Salat und Nachtisch besteht keine Gefahr einer Optionsparalyse. Und ich esse auch nicht über den eigenen Hunger hinaus, wie sonst so oft, wenn ich mit einer riesigen Auswahl konfrontiert bin.

Nach dem Essen breche ich mein Schweigen, um kurz mit meiner Mutter zu telefonieren, die mir erzählt, dass mein Vater nach seiner schweren Herz-OP inzwischen von der Wachstation wieder auf die normale Station verlegt worden. Das beruhigt mich doch. Als ich ihn zuletzt im Krankenhaus besucht habe, sah er noch sehr schlecht aus. Aber es geht wohl aufwärts mit ihm.

Jetzt habe ich mich noch mit Anstand durch die Abendandacht gepfuscht. Dass ich das „Salve Regina“ nicht mal ansatzweise textsicher beherrsche, ja eigentlich überhaupt nicht kenne, ist, glaube ich, nicht aufgefallen – ich kann Latein ganz gut vortäuschen.
Aber ich habe auch festgestellt, dass die katholische Liturgie doch viel Schönes hat.

Nun ist der erste Tag also rum, bis auf meine eigene Abschlussmeditation. Ich bin inzwischen froh, dass ich hier bin. Und ich bin auch froh, dass nicht alles perfekt ist. So bleibt noch Potenzial für die Zukunft. Und ich merke, dass ich auch unter nicht perfekten Umständen wunderbare Exerzitien haben kann. Denn das, worauf es mir hier ankommt, erlebe ich ohnehin am ehesten in meinem stillen Kämmerlein – allein mit Gott und mir. Alles andere ist ja doch nur Rahmenprogramm.

Vater, ich beginne, in die Stille zu lauschen, um Deine leise Stimme zu vernehmen. Schenke mir ein hörendes Herz.

3. Tag

 Der Pater ist heute heiser und überträgt Schwester Pia, die selbst zum Gotterbarmen hustet, die Rolle der Vorbeterin bei der Morgenandacht. Und sie meistert die Rolle tapfer. Ohnehin wächst sie mir immer mehr ans Herz. Mit ihrer patenten und bodenständigen Art betet sie sicher auch eher zum „Gott der Töpfe und Pfannen“, wie es bei Teresa von Ávila so wunderbar heißt, als sich in übertriebener Frömmigkeit zu ergehen. Ich beginne langsam, die uniforme Menge der nahezu gleich gekleideten Schwestern ein bisschen auseinander zu halten. Als ich mich nach dem Frühstück in die Essensliste eintrage, lächelt mich Schwester Gunhildis, wie ich der Liste entnehme, aus ihrem uralten, runzeligen Gesicht so voller Wärme und Güte an, dass mir das Herz aufgeht. Was immer sie im Kloster gesucht hat, sie scheint es gefunden zu haben.

Der Pater lässt es sich trotz Heiserkeit nicht nehmen, sein Impulsreferat in voller Länge abzuhalten. Es sind ja durchaus interessante Gedanken darunter, wenn er sie nur mal gescheit ausführen würde, statt sich immer wieder in seine Gedankenlabyrinthen zu verirren. Immerhin verkündet er, dass wir in den kommenden Tagen auch eigene Gedanken zum Thema äußern dürfen. Darauf bin ich schon sehr gespannt. Noch betrachte ich die Impulse eher als etwas, das es zu überstehen gilt, denn als Hilfestellung oder Anregung.

Dafür habe ich eine sehr schöne Morgenmeditation. Die Worte sind allmählich versiegt. Nun beginne ich zu schweigen und lasse die Gedanken vorbeiziehen, ohne sie sonderlich zu beachten. Ich spüre, wie ich im Inneren weiter und offener werde, empfänglicher. Und zum ersten Mal, seit ich hier bin, spüre, eher ahne ich einen Moment lang eine Gegenwart, ein Gegenüber, das da ist. Er, dem meine Sehnsucht gilt. Und dieser Moment klingt noch nach.

Vor dem Essen gebe ich kurz dem Laster nach und spiele eine Runde „Pflanzen gegen Zombies“ auf dem ipod. Ich hoffe, dass die Spielgeräusche nicht bis auf den Flur dringen. Manchmal muss ich doch meiner eigenen Heiligkeit davonlaufen.

Beim Mittagessen stelle ich fest, dass die totale Konzentration auf das Essen auch von Nachteil sein kann. Dem langweiligen Ravioli-Auflauf hätte etwas kommunikative Würze gut getan. Dafür gab es zum Nachtisch ein gigantisches Spaghetti-Eis. Amüsiert stelle ich fest, dass die Schwestern zumindest der kulinarischen Fleischeslust nicht abhold sind. Fast alle verschmähen die fleischlose Essens-Variante.

Ich spüre immer deutlicher, wie der Raum, den ich in mir durch den Abstand zum Alltag und durch das beständige Schweigen schaffe, gefüllt wird von der „Stimme verschwebenden Schweigens“, wie es in der großartigen Übersetzung Martin Bubers über den Gott heißt, der Elija am Berg Horeb begegnet. Nicht der laute Gott in Erdbeben und Feuer, wie Mose ihn erfahren hat, sondern das sanfte Säuseln, die leise Stimme, die doch das ganze Innere erfüllt und zum Klingen bringt. Deshalb bin ich hier, um diese Stimme zu vernehmen, die im Alltag so oft übertönt wird, so machtvoll sie auch manchmal sein kann. Und langsam macht sie sich bemerkbar, füllt den Raum in mir immer mal wieder für kurze Augenblicke aus. Und dann weiß ich, dass es richtig war, meiner Sehnsucht zu folgen und hierher zu kommen.

Der zweite Impuls heute gerät etwas strukturierter. Zum ersten Mal sehe ich die noch recht junge Franziskanerin vor mir richtig herzhaft lächeln, während sie mir bisher immer eher gedrückt erschien. Das hellwache und geistig rege Gesicht von Schwester Gunhildis bezaubert mich erneut. Mit meiner Nachbarin zur Rechten tausche ein herzliches Lächeln. So langsam wachsen mir die Schwestern richtig ans Herz. Das was ich mir gewünscht hatte, dass hier im Schweigen eine Gemeinschaft durch wortlosen Austausch mit Blicken, Gesten, einem Lächeln entsteht, scheint zumindest im Einzelfall zu funktionieren.

Zum Schluss des Tages noch eine schöne Abendandacht. Ich schließe immer mehr meinen Frieden mit der Liturgie, die mir lange Zeit so verstaubt und erstarrt in Riten, deren Sinn kaum mehr nachvollziehbar ist, erschien. Aber die jahrhundertalte Tradition entfaltet doch ihren ganz eigenen Reiz, wenn man sich darauf einlässt und bildet ja auch eine Klammer um all die persönlichen Gotteserfahrungen. Ob ich mich allerdings je mit dem Rosenkranz anfreunden kann, wage ich zu bezweifeln. Spätestens bei der vierten Wiederholung fange ich an zu leiern: Heiligemariamuttergottesbittefürunssünderjetztundinderstundeunserestodesamen. Und ich muss aufpassen, wenigstens einmal zwischendurch Luft zu holen, um hinterher nicht laut zu japsen. Die Komplet gefällt mir jedoch sehr gut. Wenn wir gemeinsam die wunderschönen Worte „In deine Hände leg ich voll Vertrauen meinen Geist“ anstimmen und anschließend den Lobgesang des Simeon singen, der mit den Worten beginnt „Sei unser Heil, o Herr, derweil wir wachen, behüte uns, da wir schlafen, auf dass wir wachen mit Christus und ruhen in Frieden“, dann fühle ich von einem Hauch der Ewigkeit umweht und angerührt. Ich weiß jetzt schon, dass mir das fehlen wird nach dieser Woche.

Nun noch eine kurze Abendmeditation und zum Einschlafen ein paar Lieder aus Taizé, die ich mir auf den ipod geladen habe. Das ist dann noch meine persönliche Abendandacht. Ich merke, dass meine Maxime, hier möglichst nichts Weltliches einfließen zu lassen, weder bei Lektüre noch bei der Musik, auch ihren Teil zum Gelingen der Exerzitien beiträgt.

Vater, du näherst dich mir sanft und voller Zärtlichkeit. Du erfüllst mein Inneres mit Ruhe und tiefer Freude.

4. Tag

„Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde“. Wenn mein Mund denn könnte… Ich werde noch zu einer Meisterin im Vortäuschen von Marienliedern. Aber was bleibt mir auch übrig, wenn der Pater nie die Nummer im Gesangbuch nennt, weil jede brave Katholikin diese Lieder natürlich bis zur letzten Strophe auswendig kennt? Immerhin täuscht es sich auf Deutsch wesentlich leichter vor als auf Latein, und ich habe wohl eine recht überzeugende Vorstellung von „Maria breit‘ den Mantel aus“ gegeben.

Der Morgenimpuls verschafft mir tatsächlich noch mal eine kleine Anregung. Die Morgenmeditation hingegen finde ich nicht sonderlich gelungen. Ich finde nicht in eine vernünftige Konzentration hinein. Im Nachhinein entfaltet sie aber doch ihre Wirkung, und ich fühle mich doch im Inneren berührt.

In meiner Bibellektüre mache ich auch Fortschritte. Nachdem ich gestern in einem Kraftakt das Buch Ezechiel ausgelesen habe, wartet heute Daniel auf mich. Endlich nicht mehr seitenlange düstere Prophezeiungen über den Untergang Jerusalems und Gottes Zorn auf Israel. Die großen Propheten haben mich wirklich geschafft. Dagegen ist die Danielgeschichte eine schöne Verschnaufpause. So viel Handlung gab es seit den dem Buch Ester nicht mehr. Ich hatte schon ganz vergessen, dass die Bibel auch ein Buch voll spannender Geschichten ist.

Bei der Eucharistiefeier bekommt jeder nur eine halbe Hostie. Offenbar gehen dem Pater die Oblaten aus, und ein Brotvermehrungswunder ist nicht in Sicht. Aber mir gefallen diese kleinen Pannen.

Beim Mittagessen begehe ich eine Todsünde und nehme mir vom Essen, das ich nicht bestellt hatte. Aber die Gemüsenuggets sehen so wenig einladend aus, und das Fleischgericht ist definitiv ein anderes als auf der Auswahlliste stand, so dass ich meine Wahl für nichtig erkläre. Ich hoffe nur inständig, dass ich keiner Schwester ihren Braten wegesse. Aber hinterher ist noch genug übrig, und auch die Nuggets sind nicht unangetastet geblieben. Dafür schmeckt der Pudding zum Nachtisch wie pure Chemie, und ich schaffe es nur als Akt der Buße für meinen Essensbetrug ihn auszulöffeln, denn hier lässt niemals jemand etwas auf dem Teller zurück. Beim Dankgebet nach dem Essen denke ich, wenn der Herr tatsächlich im Mahl war, wie der Pater betet, dann aber gewiss nicht im Pudding – oder der Herr ist absolut ungenießbar…

Nach dem Essen mag ich heute nicht spazieren gehen. Mir ist eher nach einem inneren Spaziergang zumute. Ich setzte mich hin und versuche zu meditieren. Dabei wird mein Kopf durchaus nicht leer. Meine Gedanken ziehen beständig vorüber, mal als kleine Wolkenfetzen, mal türmen sie sich zu größeren Gebilden auf. Aber indem ich nicht dagegen ankämpfe, sondern einfach nur still dasitze, spüre ich immer mehr innere Ruhe und Geborgenheit und nehme Gottes Gegenwart in dieser Ruhe wahr. Ich fühle, dass diese Ruhe nicht aus mir heraus kommt, sondern dass sie mir geschenkt wird.

Zu Hause, mitten im Alltagstrubel, gelingt es mir nur sehr selten, zu dieser Ruhe zu finden, weshalb ich das Meditieren dort bald wieder aufgegeben habe. Es wurde nur zu einem weiteren Termin, den es abzuarbeiten galt. Aber die Sehnsucht blieb. Hier hingegen lebe ich in einem Zustand des Schweigen und des vollkommenen Ausgerichtetseins auf Gott. Es dringen tatsächlich nur noch selten Gedanken aus der Welt, die ich vorübergehend hinter mir gelassen habe, in mein Bewusstsein. Hier erlebe ich, dass Gott immer da ist, dass er mich leise berühren will, wenn ich ihn nur lasse.

Und dann gibt es auch die Momente, wo gar nichts passiert. Ich bin da, ich konzentriere mich – und nichts weiter. In diesen Momenten wird mir bewusst, dass innere Ruhe und Geborgenheit, die ich manchmal empfinde, Geschenke sind und keine Leistung, die ich selbst durch korrektes Meditieren erreichen kann. Und dann bleibe ich einfach weiter sitzen und bin nur da vor Gott, so wie ich es mir für diese Woche vorgenommen habe. Alles andere versuche ich abzugeben, meine Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen. Und ich nehme an, was ich geschenkt bekomme.

In der Abendandacht beschleicht mich der Verdacht, dass der Pater ein wenig tüttelig wird. Er lässt die stille Anbetung so lange andauern, dass ich schon befürchte, er könnte eingeschlafen sein. Aber noch bevor ich mir ausmalen kann, was passiert, wenn er heute nicht mehr aufwacht, kündigt er das nächste Lied an. Anschließend stimmt er ein zweites Mal das lange Gebet an, das wir bereits vor der Stille gebetet haben. Es geht ein leises Raunen durch unsere kleine Gemeinde, da nicht erkennbar ist, ob das Absicht ist oder ein Versehen. Aber dann fallen wir gottergeben mit ein, kann ja nicht schaden. Und immerhin bleibt mir dadurch der halbe Rosenkranz erspart.

Wo ich dies schreibe, wird mir bewusst, dass heute schon Halbzeit ist. So schnell ist die Zeit vergangen. Ich könnte ohne weiteres noch länger als weitere drei Tage hier bleiben. Müsste ich aber den Rest meines Lebens bleiben, würde mir diese Lebensweise wohl irgendwann zum Gefängnis werden. Dafür sind mein Freiheitsdrang und meine Weltneugier einfach zu groß.

Vater, du schenkst mir deine Geborgenheit und deinen Frieden. Du sagst zu mir: Hab keine Angst! Und ich spüre deine Nähe.

5. Tag

Heute Morgen bei der Andacht geht mir durch den Kopf, dass ein derart reizarmes und fokussiertes Leben, wie ich es hier gerade führe, Gott zum Alleinunterhalter macht. Und ob er darauf dauerhaft Lust hätte, wage ich zu bezweifeln. Aber ich spüre auch, wie sich die Stille hier tief in mich einprägt und ich schon Gesprächsfetzen, die zufällig hin und wieder an mein Ohr dringen, als störend empfinde. Ich fürchte, nach einer Woche bin ich der Welt ganz schön entwöhnt und muss mich erst langsam wieder einleben.

Beim morgendlichen Impuls habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass die Bibelstelle, die das Thema dieser Exerzitien ist, tatsächlich etwas mit meinem Erleben hier zu tun hat.
„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“ Lustigerweise verfällt auch der Pater immer wieder in die Lutherübersetzung, die sich in das deutsche Volksgedächtnis doch so viel mehr eingeprägt hat als die sprachlich oft so verhunzte Einheitsübersetzung:
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“.
Wir sinnieren über den Gegensatz von „Ruhe verschaffen“ und „erquicken“, und Schwester Pia merkt scharfsinnig an, dass in der Ruhe ja auch Erquickung liegt. Und das ist es ja gerade, was wir hier erleben. Das ist mal Gedankenfutter für die stille Zeit in meinem Kämmerlein.

Bei der Eucharistiefeier gibt es heute wieder eine ganze Hostie für jeden. Ob sie sich über Nacht doch wundersam vermehrt haben oder der Nachschub auf profanere Weise herbeigeschafft wurde, werden wir wohl nie erfahren.

Meine freie Zeit nutze ich nicht nur für Gebet und Meditation (mehr als eine halbe Stunde am Stück bringe ich da nicht zustande – ein japanischer Zen-Mönch ist jedenfalls nicht an mir verloren gegangen) sondern auch zum Auswendiglernen. Hier im Zimmer liegt ein Heftchen mit Gebetstexten, das auch das wunderbare Gedicht „Empfänger unbekannt“ von Hans Magnus Enzensberger enthält, dessen Titel das Heft wohlweislich verschweigt, wie ich belustigt zur Kenntnis nehme. Das habe ich mir als erstes vorgenommen, weil ich es schon so lange liebe und es alles ausdrückt, was ich auch empfinde:

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende und die paar Minuten dazwischen inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.


Und wo ich einmal dabei war, habe ich gleich den 23. Psalm folgen lassen, der ja fast schon zur Allgemeinbildung gehört. Und den 63. Psalm möchte ich auch noch lernen, weil er so gut zu dieser Woche passt und ausdrückt, wie mir zumute ist. Ich bedauere schon, dass ich aus Rilkes „Stundenbuch“ nur ein paar Fragmente auswendig kann. Schade, dass ich es nicht eingepackt habe, das hätte auch gut hierher gepasst.

Beim Nachmittagsimpuls überlege ich, wie es kommt, dass unser einziger männlicher Teilnehmer, ein Pater, der sich mit den Worten vorgestellt hat, er sei im selben Jahr geboren wie der Heilige Vater, als einziger durch die andere Tür den Raum betritt. Da ich ihn auch noch nie auf dem Gang gesehen habe, wo wir Frauen unsere Zimmer haben, vermute ich, dass man ihn in einem anderen Trakt untergebracht hat. Vermutlich, um uns nicht in Versuchung zu führen.

Der Pater referiert heute über das Joch im Allgemeinen und das leichte Joch Jesu. Und auch wenn ich seinen Ausführungen nicht immer in jedem Punkt zustimme, erkenne ich doch an, dass er sich viel Mühe gibt und sich gewissenhaft vorbereitet hat. Und er drängt sich auch nicht auf, was ich sehr angenehm finde. Da er stark erkältet ist, ist er wohl auch froh, nicht über Gebühr mit Gesprächswünschen behelligt zu werden. Und manchmal hat er in seinen Gebeten so eine frische Inbrunst, die mich zum Lächeln bringt.
Ich merke schon, ich bin langsam auf dem Weg zur Heiligen. Meine Toleranz und mein Verständnis werden mir schon langsam unheimlich. Nur gut, dass das nicht anhalten wird, sonst würde ich wohl irgendwann unerträglich, denn mit den Heiligen lebt es sich so schwer, wie schon Teresa von Ávila wusste.

Beim Abendessen fehlt der Pater. Die Erkältung hat sich doch als schwerwiegender erwiesen, und nun liegt er mit Fieber im Bett und wartet auf den Arzt. Meinen Respekt dafür, dass er sich davon kaum etwas hat anmerken lassen. Er muss sich furchtbar zusammengerissen haben.

Bei der Abendandacht fällt die Anbetung aus, und Schwester Pia führt uns durch die Komplet. Diesmal singen wir den Lobgesang des Simeon sogar, den wir sonst immer nur gesprochen haben. Und diese schöne Text entfaltet in gesungener Form noch viel stärker seine Wirkung. Gut, dass wir so viele Fachfrauen unter uns haben. Nach der Komplet mag fast niemand schon gehen. Eine Schwester löscht das große Licht, und so sitzen wir im Halbdunklen noch eine ganze Weile still zusammen. Ich nutze die Gelegenheit, um mal aller Menschen in meinem Umfeld zu gedenken, die ein wenig himmlischen Beistand brauchen können. Da gibt es doch eine ganze Menge, wie ich feststelle. Und sicher habe ich noch einige vergessen.

Ich glaube wirklich, dass mir das Stundengebet von allem hier am meisten fehlen wird. Ich hätte nicht erwartet, dass mich die Liturgie so packt. Ich habe das zwar schon des öfteren von Leuten gelesen, die eine Auszeit im Kloster genommen haben, aber ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen. Und nun hat es mich auch erwischt. Diese z.T. jahrhundertealten Texte stellen so einen reichen Schatz dar, dessen Wirkung man sich nicht entziehen kann.

Vater, in deine Hände sei alles gelegt, mein ganzes Leben, mein Ich, meine Sehnsüchte, Wünsche, Begierden, alles will ich dir schenken. Dir vertraue ich, dein Wille geschehe.

6. Tag

Bei der Laudes fehlt der Pater immer noch. Aber Schwester Pia ersetzt ihn routiniert, und allzu viel Anleitung brauchen die meisten von uns ja ohnehin nicht. Als wir zum Frühstück kommen, sitzt der Pater bereits am Tisch, was die Schwestern belustigt zur Kenntnis nehmen, hatten wir im Morgenlob doch noch für ihn gebetet (das war mal eine Express-Gebetserhörung). Nur Schwester Pia ist flüsternderweise erbost und will den Pater gleich wieder ins Bett schicken. Erst als er versichert, fieberfrei zu sein, darf er gnädig bleiben. Es rührt mich, dass ausgerechnet sie, die sich mit ihrer starken Erkältung kein bisschen schont, sondern immer unermüdlich für alles sorgt, so fürsorglich ist. Hoffentlich finde ich Gelegenheit, ihr am Schluss einmal dafür zu danken.

Heute Vormittag sinne ich darüber nach, wie leicht mir das Schweigen fällt, wie natürlich und angenehm ich die Stille finde. Hier bin ich wirklich in meinem Element. Ich hätte vermutlich ohne weiteres ein Leben in Stille führen können, wenn es sich so ergeben hätte, und wäre damit nur dem gefolgt, was ohnehin in mir angelegt ist. Und trotzdem denke ich, dass es für mich besser war, auch meine kommunikative Seite zu entwickeln, auch wenn ich es darin nie zur Meisterschaft bringen werde. Wir leben nun mal in einer Welt, in der das Reden deutlich mehr Gewicht hat, als das Schweigen. Aber ich kann mit meinen diesbezüglichen Schwächen sehr viel besser leben, wenn ich erlebe, dass ich hier zur Abwechslung auch mal meine Stärke voll ausleben kann. Hier ist ein Ort, wo das Schweigen erwünscht und geschätzt ist. Und vielleicht gelingt es mir ja sogar, das, was ich hier im Schweigen erfahre, in irgendeiner Form in die Welt zu tragen und fruchtbar zu machen. Dann hat auch diese, scheinbar so unnötige Fähigkeit ihren Sinn.
Kurz darauf stolpere ich bei Jesus Sirach dann über diese Stelle: „eine Frau, die schweigen kann, ist eine Gabe Gottes“ (Sir. 26,1). Ich fürchte, zwar, dass hinter diesem Ausspruch die Klage eines genervten Mannes steckt, aber was soll’s. Es steht nun mal so da und bestätigt mich.

Mir bleibt auch nichts erspart! Heute gibt es Fencheltee zum Abendessen. Fencheltee, den ich zuletzt als bauchwehgeplagtes Kleinkind getrunken habe. Aber dann denke ich an den Heiligen Ignatius von Loyola, den geistigen Vater aller Exerzitien, der seinen Zöglingen nicht nur äußerste Mäßigung bei der Nahrungsaufnahme empfahl, sondern auch das Tragen härener Hemden, das Schlafen auf dem Fußboden und regelmäßige Selbstgeißelungen für probate Mittel der inneren und äußeren Läuterung hielt. Was ist dagegen schon ein Glas Fencheltee?

Vater, du hast mir deinen Abdruck in meinem Herzen gezeigt. Ich kann dir nicht mehr verloren gehen. Du bist immer bei mir, auch wenn ich deine Nähe mal nicht fühle

7. Tag

Die Laudes dauert heute Morgen so lange, als wollte der Pater sein Versäumnis von gestern nachholen. Als ich schon glaube, dass wir in Frieden entlassen sind, stimmt er noch den Engel des Herrn an, worauf mein Magen mit einem herzhaften Knurren antwortet. Aber das Frühstück läuft uns ja nicht davon und will verdient sein.

Zum morgendlichen Impuls hat Schwester Pia für uns eine Farbkopie des sehr schönen spätbarocken Gemäldes von Christus als Apotheker gemacht, das uns der Pater mitgebracht hat und das wir nun noch mal genauer betrachten. Meine Nachbarin flüstert mir zu, dass Jesus darauf einen ganz modernen Bart habe. Und tatsächlich sieht er wie eine Mischung aus Raver und Nerd aus. Ich muss mir das Lachen verbeißen und grinse sie nur an. Humor haben die Schwestern schon.

Bei der Eucharistie gibt es endlich mal Lieder, die selbst ich mit meinem liturgischen Halbwissen kenne und die zu meinen Lieblingsliedern gehören. Das ist ein schönes Geschenk für den letzten Tag. So langsam macht sich schon die Wehmut breit in mir, je öfter ich denke „zum letzten Mal…“.

Beim Mittagessen merke ich, dass mir doch zunehmend wieder weltliche Gedanken durch den Kopf gehen. So langsam tauche ich wieder aus der Versenkung auf. Aber ich habe auch das Gefühl, dass ich gefunden habe, was ich hier gesucht habe und nun seelensatt von hier weggehen kann. Es bleibt nur noch das große und umfassende Dankeschön, für das ich im Gebet einmal mehr auf die Psalmen zurückgreife.

Den letzten Impuls beschließt der Pater mit einem kurzen Film über die Vorbereitungen für das Taizé-Jugendtreffen, das in Berlin über den Jahreswechsel stattfindet. Und ich merke wieder, wie sehr Taizé mich im Innersten packt. Als Frère Alois, der jetzige Prior, davon spricht, dass die Jugendlichen erfahren sollen, dass sie vertrauen können, geht es mir durch und durch. Das ist genau das, was ich in dieser Woche hier einmal mehr so intensiv erfahren habe, dass da jemand ist, dem wir vertrauen können, der uns bedingungslos annimmt und liebt. Und wie oft wird diese so elementare Botschaft verschüttet, verzerrt, relativiert. Hinterher entspinnt sich noch ein Gespräch über Taizé und den Weltjugendtag und die fundamentalen Unterschiede zwischen beiden Veranstaltungen. Ich merke, dass Taizé auch hier niemanden unberührt lässt. Was die Brüder dort geschaffen haben, ist so unendlich wertvoll. Und ich beschließe in dem Moment, dass ich ganz sicher Anfang November zur Taizé-Lichternacht in die Agnes-Kirche gehen werde.

Und so habe ich einiges, was ich mit in mein Nachmittagsgebet mitnehmen kann, das diesmal sehr leidenschaftlich ausfällt. Bei Abendessen merke ich, wie ich von tiefer innerer Freude erfüllt bin. Genauso habe ich mich auch in den ersten Tagen hier gefühlt, und so schließt sich ein Kreis.

Eine letzte Abendandacht mit sehr schönen Gebeten und Psalmen. Fast scheint mir, als würde der Taizé-Film auch beim Pater noch nachklingen. Und das „Salve Regina“ kann ich bis auf wenige Textstellen nun auch auswendig mitsingen. Wer sagt es denn?
Sie wird mir fehlen, die Komplet, das weiß ich ganz sicher.

Vater, es ist alles gesagt zwischen uns für diesmal. In mir ist nichts als Dankbarkeit. Du hast dein Wort gehalten und dich von mir finden lassen.

8. Tag

Es heißt Abschied nehmen. Aber es fühlt sich auch stimmig an. Die Dauer war genau richtig für mein Empfinden. Heute feiern wir auf besonderen Wunsch der Klosterschwestern die Messe gemeinsam in der Klosterkapelle. Dafür entfällt dann die Laudes. Und was soll ich sagen? Ich hab sie heute Morgen für mich allein gebetet. Kann Stundengebet süchtig machen? Oder bin ich tatsächlich schon auf beunruhigende Weise auf dem Weg zur Heiligen? Aber im Alltag werde ich das nicht beibehalten, da bin ich mir sicher. Man muss ja nichts übertreiben. Allerdings bin ich mir schon sicher, dass ich wieder mal häufiger in die Kirche gehen werde.

Die Messe in der sehr schlichten und modernen Klosterkapelle ist sehr schön. Und wir haben Gelegenheit, endlich auch mal alle Schwestern zu sehen, die im Kloster leben. Es sind doch mehr als ich dachte, aber eben alles ältere Semester. Ich frage mich, wie es mit dem Haus weitergeht, wenn die Schwestern das nicht mehr stemmen können.

Beim Frühstück wird dann das Schweigen offiziell aufgehoben. Und sofort setzt ein Geschnatter ein, an das ich mich erst mal wieder gewöhnen muss. Aber dann entwickelt sich schnell ein anregendes Gespräch mit meinem Gegenüber, der Teilnehmerin, mit der ich mich schon am ersten Abend unterhalten hatte. Am Ende sind wir beim Du angelangt und beschließen, in Kontakt zu bleiben. So kann man also auch im Schweigen Bekanntschaften schließen.

Ich verlasse das Kloster mit nur leiser Wehmut. Die Zeit ist rum, es passt so. Aber als ich kurz darauf bei Aldi an der Kasse stehe, wird mir erst richtig bewusst, in welch unglaublich exotischer Parallelwelt ich da eine Woche verbracht habe. Es scheint mir, als wäre ich in einem anderen Universum gewesen.

Als ich mittags meine Mutter besuche, ist sie von zig Alltagsdingen so gestresst und genervt, dass sie keinen Kopf hat, mich mehr als nur flüchtig zu begrüßen. Ich lege mich erst mal aufs Sofa, schalte den ipod ein und höre Taizé-Lieder. Ich bin dann mal weg…

Vater, lass die Quelle, die ich hier vom Sand und Geröll des Alltags befreit und gereinigt habe, weiterhin sprudeln und lass mich in der Welt dein Licht zum Leuchten bringen.