Sonntag, 6. November 2011

2. Tag

Gut geschlafen habe ich schon mal. Die Matratze ist schön hart, die Bettdecke kuschelig, daran soll es also nicht liegen. Über dem Bett hängt das obligatorische Kruzifix, zu dem ich mit gemischten Gefühlen aufschaue. Es gibt sicherlich Situationen, in denen der leidende Jesus tröstlich sein kann, aber immer nur diese wenigen schrecklichen Stunden am Kreuz vor Augen zu haben? Eigentlich tut mir Jesus vor allem leid, wenn ich ihn da so hängen sehe. Da gefällt mir das leere Kreuz der Protestanten als Zeichen der Auferstehung dann wieder besser. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass da nachts einer über mich wacht, was auch wieder schön ist.

Ich habe beschlossen, diesen Glaubensmarathon hier Schritt für Schritt anzugehen und nicht zu verzweifeln, wenn ich keine rechte Stimmung entwickle oder mal wieder als religiöse Analphabetin stumm neben den versierten Hochleistungsbetern stehe. Darauf kommt es nicht an, das sei jetzt mein Mantra.

Bei der Morgenandacht hatte ich gleich schon Gelegenheit, dieses Mantra einzuüben, nachdem ich prompt vergaß, das Knie vor dem Tabernakel zu beugen. Aber ich bin ja lernfähig. Weitere Blamagen blieben mir immerhin erspart. Immer wieder amüsiert mich die Überpünktlichkeit der Schwestern. Ich bin ja nun für mein pünktliches Erscheinen schon eher berüchtigt als berühmt, aber wenn ich hier zehn Minuten vor Beginn den jeweiligen Raum betrete, egal ob Kapelle, Speisesaal oder Gruppenraum, bin ich fast schon die letzte. Wer tatsächlich pünktlich kommt, ist praktisch schon zu spät.

Das erste Impulsreferat am Morgen über die Bibelstelle, die das Thema der Exerzitien bildet, dauert eine halbe Stunde, und der Pater schafft es mit vielen Worten wenig zu sagen. Die Schwester neben mir schreibt brav mit, was ich ganz rührend finde. Das Bild des Christus mit ausgebreiteten Armen, das er uns mitgebracht hat, berührt mich allerdings sehr, und ich nehme es mit in meine morgendliche Gebets- und Meditationszeit. Der Pater stellt den Christus mit den ausgebreiteten Armen, dem leidenden Christus am Kreuz gegenüber und greift damit meine Gedanken vom Morgen auf. So sehr ich auch glaube, dass wir den leidenden Christus nicht in der Schublade verschwinden lassen dürfen, so sehr bin ich davon überzeugt, dass wir den anderen noch nötiger brauchen. Und ich bin froh, dass sich diese Erkenntnis offenbar mehr und mehr durchsetzt.

Bei der Eucharistiefeier begehe ich einstweilen keinen faux pas mehr.

Das Mittagessen in Stille tut mir gut. Langsam merke ich, wie die Ruhe hier sich wie ein Mantel über mir ausbreitet. Das Schweigen scheint mir ein ganz natürlicher Zustand zu sein. Ich ziehe es an wie eine zweite Haut. Es passt auf Anhieb, fühlt sich nicht fremd oder unbehaglich an. Der Pater legt ein Violinkonzert auf. Wir werden beim Mittag- und Abendessen nun immer Musik hören, was ich sehr schön finde. Untereinander verständigen wir uns mit Gesten oder auch mal mit ein paar geflüsterten Worten, da sind die Schwestern zum Glück sehr undogmatisch. Ich merke, dass ich bewusster essen und den Geschmack des Essens (es gibt Kalbsgulasch mit Spätzle) aber auch mein Sättigungsgefühl stärker wahrnehme. Vermutlich würde man bei dauerhaftem Essen in Stille niemals dick werden, aber ganz sicher sehr einsam…

Nach dem Essen treiben mich die Entdeckerlust und das schöne Wetter zu einem Spaziergang. Da ich mich nicht auskenne, gehe ich nicht allzu weit und hänge noch einen Rundgang durch den sehr schönen und weitläufigen Klostergarten dran. Unterwegs begegnen mir die Teilnehmerinnen eines anderen Kurses, die offenbar nicht schweigen. Ich gehe ich ihnen weiträumig aus dem Weg.

Den Rest des Nachmittags verbringe ich mit Lesen, Nichtstun, und noch einer Gebets- und Meditationszeit. Ich habe mir vorgenommen, jeweils vormittags, nach dem Mittagessen, nach dem Nachmittagsimpuls und zum Abschluss des Tages eine persönliche Gebetszeit einzulegen. Das sollte reichen, und für mehr reicht auch meine Konzentration nicht. Es gibt jedoch keinerlei Anweisungen oder auch nur Empfehlung, wie oder wo wir unsere freie Zeit verbringen sollen, was ich sehr angenehm finde. Neben der kleinen Kapelle, die auf demselben Gang liegt wie unsere Zimmer, gibt es auch noch einen Raum der Stille. Ich fühle mich jedoch in meinem eigenen Kämmerlein am wohlsten.

Beim zweiten Impulsreferat stelle ich fest, dass der Pater sicherlich ein sehr liebenswerter Mensch ist, mir aber nicht sehr viel zu sagen hat, auch wenn er sich Mühe gibt, nicht nur zu den Ordensschwestern zu spreche, mit deren Welt und Sorgen er natürlich sehr viel vertrauter ist als mit meiner Weltlichkeit. Ich versuche, das Beste daraus zu machen und vielleicht hin und wieder einen Gedanken mitzunehmen, um darüber zu beten und zu meditieren. Im Moment texte ich Gott noch gnadenlos zu mit meinem Gedankenüberfluss. Von innerer Stille noch keine Spur. Noch dringt die äußere Stille nicht in meinen vollgestopften Kopf vor. Aber ich habe ja Zeit. Immerhin versuche ich, langsam stiller zu werden. Und wenn meine Gedanken mal wieder Achterbahn fahren, bleibe ich trotzdem still sitzen. Es wird schon werden.

Beim Abendessen muss ich grinsen, als Schwester Pia, die hier im Haus lebt, das Gesicht angesichts des offenbar unvermeidlichen Hagebuttentees verzieht und sich stattdessen lieber einen schwarzen Tee holt. Das ist vermutlich die monastische Form eines Exzesses. Ich male mir die Gesichter der Schwestern aus, wenn ich aufstünde und mir aus dem Kühlschrank gegen Bezahlung eine Flasche Kölsch nähme – und dann in Ermangelung eines passenden Glases aus der Flasche tränke. Aber ich bleibe brav beim Tee.
Das Essen finde ich auf angenehme Weise reizarm. Angesichts von je drei Sorten Brot, Käse und Wurst und einem Salat und Nachtisch besteht keine Gefahr einer Optionsparalyse. Und ich esse auch nicht über den eigenen Hunger hinaus, wie sonst so oft, wenn ich mit einer riesigen Auswahl konfrontiert bin.

Nach dem Essen breche ich mein Schweigen, um kurz mit meiner Mutter zu telefonieren, die mir erzählt, dass mein Vater nach seiner schweren Herz-OP inzwischen von der Wachstation wieder auf die normale Station verlegt worden. Das beruhigt mich doch. Als ich ihn zuletzt im Krankenhaus besucht habe, sah er noch sehr schlecht aus. Aber es geht wohl aufwärts mit ihm.

Jetzt habe ich mich noch mit Anstand durch die Abendandacht gepfuscht. Dass ich das „Salve Regina“ nicht mal ansatzweise textsicher beherrsche, ja eigentlich überhaupt nicht kenne, ist, glaube ich, nicht aufgefallen – ich kann Latein ganz gut vortäuschen.
Aber ich habe auch festgestellt, dass die katholische Liturgie doch viel Schönes hat.

Nun ist der erste Tag also rum, bis auf meine eigene Abschlussmeditation. Ich bin inzwischen froh, dass ich hier bin. Und ich bin auch froh, dass nicht alles perfekt ist. So bleibt noch Potenzial für die Zukunft. Und ich merke, dass ich auch unter nicht perfekten Umständen wunderbare Exerzitien haben kann. Denn das, worauf es mir hier ankommt, erlebe ich ohnehin am ehesten in meinem stillen Kämmerlein – allein mit Gott und mir. Alles andere ist ja doch nur Rahmenprogramm.

Vater, ich beginne, in die Stille zu lauschen, um Deine leise Stimme zu vernehmen. Schenke mir ein hörendes Herz.

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