Sonntag, 6. November 2011

4. Tag

„Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde“. Wenn mein Mund denn könnte… Ich werde noch zu einer Meisterin im Vortäuschen von Marienliedern. Aber was bleibt mir auch übrig, wenn der Pater nie die Nummer im Gesangbuch nennt, weil jede brave Katholikin diese Lieder natürlich bis zur letzten Strophe auswendig kennt? Immerhin täuscht es sich auf Deutsch wesentlich leichter vor als auf Latein, und ich habe wohl eine recht überzeugende Vorstellung von „Maria breit‘ den Mantel aus“ gegeben.

Der Morgenimpuls verschafft mir tatsächlich noch mal eine kleine Anregung. Die Morgenmeditation hingegen finde ich nicht sonderlich gelungen. Ich finde nicht in eine vernünftige Konzentration hinein. Im Nachhinein entfaltet sie aber doch ihre Wirkung, und ich fühle mich doch im Inneren berührt.

In meiner Bibellektüre mache ich auch Fortschritte. Nachdem ich gestern in einem Kraftakt das Buch Ezechiel ausgelesen habe, wartet heute Daniel auf mich. Endlich nicht mehr seitenlange düstere Prophezeiungen über den Untergang Jerusalems und Gottes Zorn auf Israel. Die großen Propheten haben mich wirklich geschafft. Dagegen ist die Danielgeschichte eine schöne Verschnaufpause. So viel Handlung gab es seit den dem Buch Ester nicht mehr. Ich hatte schon ganz vergessen, dass die Bibel auch ein Buch voll spannender Geschichten ist.

Bei der Eucharistiefeier bekommt jeder nur eine halbe Hostie. Offenbar gehen dem Pater die Oblaten aus, und ein Brotvermehrungswunder ist nicht in Sicht. Aber mir gefallen diese kleinen Pannen.

Beim Mittagessen begehe ich eine Todsünde und nehme mir vom Essen, das ich nicht bestellt hatte. Aber die Gemüsenuggets sehen so wenig einladend aus, und das Fleischgericht ist definitiv ein anderes als auf der Auswahlliste stand, so dass ich meine Wahl für nichtig erkläre. Ich hoffe nur inständig, dass ich keiner Schwester ihren Braten wegesse. Aber hinterher ist noch genug übrig, und auch die Nuggets sind nicht unangetastet geblieben. Dafür schmeckt der Pudding zum Nachtisch wie pure Chemie, und ich schaffe es nur als Akt der Buße für meinen Essensbetrug ihn auszulöffeln, denn hier lässt niemals jemand etwas auf dem Teller zurück. Beim Dankgebet nach dem Essen denke ich, wenn der Herr tatsächlich im Mahl war, wie der Pater betet, dann aber gewiss nicht im Pudding – oder der Herr ist absolut ungenießbar…

Nach dem Essen mag ich heute nicht spazieren gehen. Mir ist eher nach einem inneren Spaziergang zumute. Ich setzte mich hin und versuche zu meditieren. Dabei wird mein Kopf durchaus nicht leer. Meine Gedanken ziehen beständig vorüber, mal als kleine Wolkenfetzen, mal türmen sie sich zu größeren Gebilden auf. Aber indem ich nicht dagegen ankämpfe, sondern einfach nur still dasitze, spüre ich immer mehr innere Ruhe und Geborgenheit und nehme Gottes Gegenwart in dieser Ruhe wahr. Ich fühle, dass diese Ruhe nicht aus mir heraus kommt, sondern dass sie mir geschenkt wird.

Zu Hause, mitten im Alltagstrubel, gelingt es mir nur sehr selten, zu dieser Ruhe zu finden, weshalb ich das Meditieren dort bald wieder aufgegeben habe. Es wurde nur zu einem weiteren Termin, den es abzuarbeiten galt. Aber die Sehnsucht blieb. Hier hingegen lebe ich in einem Zustand des Schweigen und des vollkommenen Ausgerichtetseins auf Gott. Es dringen tatsächlich nur noch selten Gedanken aus der Welt, die ich vorübergehend hinter mir gelassen habe, in mein Bewusstsein. Hier erlebe ich, dass Gott immer da ist, dass er mich leise berühren will, wenn ich ihn nur lasse.

Und dann gibt es auch die Momente, wo gar nichts passiert. Ich bin da, ich konzentriere mich – und nichts weiter. In diesen Momenten wird mir bewusst, dass innere Ruhe und Geborgenheit, die ich manchmal empfinde, Geschenke sind und keine Leistung, die ich selbst durch korrektes Meditieren erreichen kann. Und dann bleibe ich einfach weiter sitzen und bin nur da vor Gott, so wie ich es mir für diese Woche vorgenommen habe. Alles andere versuche ich abzugeben, meine Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen. Und ich nehme an, was ich geschenkt bekomme.

In der Abendandacht beschleicht mich der Verdacht, dass der Pater ein wenig tüttelig wird. Er lässt die stille Anbetung so lange andauern, dass ich schon befürchte, er könnte eingeschlafen sein. Aber noch bevor ich mir ausmalen kann, was passiert, wenn er heute nicht mehr aufwacht, kündigt er das nächste Lied an. Anschließend stimmt er ein zweites Mal das lange Gebet an, das wir bereits vor der Stille gebetet haben. Es geht ein leises Raunen durch unsere kleine Gemeinde, da nicht erkennbar ist, ob das Absicht ist oder ein Versehen. Aber dann fallen wir gottergeben mit ein, kann ja nicht schaden. Und immerhin bleibt mir dadurch der halbe Rosenkranz erspart.

Wo ich dies schreibe, wird mir bewusst, dass heute schon Halbzeit ist. So schnell ist die Zeit vergangen. Ich könnte ohne weiteres noch länger als weitere drei Tage hier bleiben. Müsste ich aber den Rest meines Lebens bleiben, würde mir diese Lebensweise wohl irgendwann zum Gefängnis werden. Dafür sind mein Freiheitsdrang und meine Weltneugier einfach zu groß.

Vater, du schenkst mir deine Geborgenheit und deinen Frieden. Du sagst zu mir: Hab keine Angst! Und ich spüre deine Nähe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen