Sonntag, 6. November 2011

5. Tag

Heute Morgen bei der Andacht geht mir durch den Kopf, dass ein derart reizarmes und fokussiertes Leben, wie ich es hier gerade führe, Gott zum Alleinunterhalter macht. Und ob er darauf dauerhaft Lust hätte, wage ich zu bezweifeln. Aber ich spüre auch, wie sich die Stille hier tief in mich einprägt und ich schon Gesprächsfetzen, die zufällig hin und wieder an mein Ohr dringen, als störend empfinde. Ich fürchte, nach einer Woche bin ich der Welt ganz schön entwöhnt und muss mich erst langsam wieder einleben.

Beim morgendlichen Impuls habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass die Bibelstelle, die das Thema dieser Exerzitien ist, tatsächlich etwas mit meinem Erleben hier zu tun hat.
„Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“ Lustigerweise verfällt auch der Pater immer wieder in die Lutherübersetzung, die sich in das deutsche Volksgedächtnis doch so viel mehr eingeprägt hat als die sprachlich oft so verhunzte Einheitsübersetzung:
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“.
Wir sinnieren über den Gegensatz von „Ruhe verschaffen“ und „erquicken“, und Schwester Pia merkt scharfsinnig an, dass in der Ruhe ja auch Erquickung liegt. Und das ist es ja gerade, was wir hier erleben. Das ist mal Gedankenfutter für die stille Zeit in meinem Kämmerlein.

Bei der Eucharistiefeier gibt es heute wieder eine ganze Hostie für jeden. Ob sie sich über Nacht doch wundersam vermehrt haben oder der Nachschub auf profanere Weise herbeigeschafft wurde, werden wir wohl nie erfahren.

Meine freie Zeit nutze ich nicht nur für Gebet und Meditation (mehr als eine halbe Stunde am Stück bringe ich da nicht zustande – ein japanischer Zen-Mönch ist jedenfalls nicht an mir verloren gegangen) sondern auch zum Auswendiglernen. Hier im Zimmer liegt ein Heftchen mit Gebetstexten, das auch das wunderbare Gedicht „Empfänger unbekannt“ von Hans Magnus Enzensberger enthält, dessen Titel das Heft wohlweislich verschweigt, wie ich belustigt zur Kenntnis nehme. Das habe ich mir als erstes vorgenommen, weil ich es schon so lange liebe und es alles ausdrückt, was ich auch empfinde:

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende und die paar Minuten dazwischen inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.


Und wo ich einmal dabei war, habe ich gleich den 23. Psalm folgen lassen, der ja fast schon zur Allgemeinbildung gehört. Und den 63. Psalm möchte ich auch noch lernen, weil er so gut zu dieser Woche passt und ausdrückt, wie mir zumute ist. Ich bedauere schon, dass ich aus Rilkes „Stundenbuch“ nur ein paar Fragmente auswendig kann. Schade, dass ich es nicht eingepackt habe, das hätte auch gut hierher gepasst.

Beim Nachmittagsimpuls überlege ich, wie es kommt, dass unser einziger männlicher Teilnehmer, ein Pater, der sich mit den Worten vorgestellt hat, er sei im selben Jahr geboren wie der Heilige Vater, als einziger durch die andere Tür den Raum betritt. Da ich ihn auch noch nie auf dem Gang gesehen habe, wo wir Frauen unsere Zimmer haben, vermute ich, dass man ihn in einem anderen Trakt untergebracht hat. Vermutlich, um uns nicht in Versuchung zu führen.

Der Pater referiert heute über das Joch im Allgemeinen und das leichte Joch Jesu. Und auch wenn ich seinen Ausführungen nicht immer in jedem Punkt zustimme, erkenne ich doch an, dass er sich viel Mühe gibt und sich gewissenhaft vorbereitet hat. Und er drängt sich auch nicht auf, was ich sehr angenehm finde. Da er stark erkältet ist, ist er wohl auch froh, nicht über Gebühr mit Gesprächswünschen behelligt zu werden. Und manchmal hat er in seinen Gebeten so eine frische Inbrunst, die mich zum Lächeln bringt.
Ich merke schon, ich bin langsam auf dem Weg zur Heiligen. Meine Toleranz und mein Verständnis werden mir schon langsam unheimlich. Nur gut, dass das nicht anhalten wird, sonst würde ich wohl irgendwann unerträglich, denn mit den Heiligen lebt es sich so schwer, wie schon Teresa von Ávila wusste.

Beim Abendessen fehlt der Pater. Die Erkältung hat sich doch als schwerwiegender erwiesen, und nun liegt er mit Fieber im Bett und wartet auf den Arzt. Meinen Respekt dafür, dass er sich davon kaum etwas hat anmerken lassen. Er muss sich furchtbar zusammengerissen haben.

Bei der Abendandacht fällt die Anbetung aus, und Schwester Pia führt uns durch die Komplet. Diesmal singen wir den Lobgesang des Simeon sogar, den wir sonst immer nur gesprochen haben. Und diese schöne Text entfaltet in gesungener Form noch viel stärker seine Wirkung. Gut, dass wir so viele Fachfrauen unter uns haben. Nach der Komplet mag fast niemand schon gehen. Eine Schwester löscht das große Licht, und so sitzen wir im Halbdunklen noch eine ganze Weile still zusammen. Ich nutze die Gelegenheit, um mal aller Menschen in meinem Umfeld zu gedenken, die ein wenig himmlischen Beistand brauchen können. Da gibt es doch eine ganze Menge, wie ich feststelle. Und sicher habe ich noch einige vergessen.

Ich glaube wirklich, dass mir das Stundengebet von allem hier am meisten fehlen wird. Ich hätte nicht erwartet, dass mich die Liturgie so packt. Ich habe das zwar schon des öfteren von Leuten gelesen, die eine Auszeit im Kloster genommen haben, aber ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen. Und nun hat es mich auch erwischt. Diese z.T. jahrhundertealten Texte stellen so einen reichen Schatz dar, dessen Wirkung man sich nicht entziehen kann.

Vater, in deine Hände sei alles gelegt, mein ganzes Leben, mein Ich, meine Sehnsüchte, Wünsche, Begierden, alles will ich dir schenken. Dir vertraue ich, dein Wille geschehe.

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